Schildkröte als Mahnmal für die Tschernobyl-Katastrophe
In Bamberg an der Friedensbrücke über die Regnitz findet man diese steinerne
Schildkröte, die hilflos auf dem Rücken liegt. Die Weltkarte auf dem Bauch soll
die Hilflosigkeit der Erde gegenüber den atomaren Abfällen und anderen Folgen
der Atomenergie-Nutzung darstellen, denen sich die
➜ Erde
in den nächsten Jahrmillionen gegenübersehen wird.
Bei der Reaktor-Katastrophe des Atomkraftwerks Tschernobyl wurden
➜ nukleare Abfälle
über halb Europa verteilt, was wir noch heute zu spüren bekommen, wenn wir
nicht zu viele Waldpilze essen sollen oder ein Jäger sein geschossenes
Wildschwein nicht verkaufen oder verwerten darf, sondern es entsorgen muss.
Update:
Nachdem Deutschland den Atomausstieg vollzogen hat, sollten wir solche Mahnmale wohl eher an die Länder schicken, welche ihre Kernkraftwerke weiterbetreiben oder die Atomenergie sogar weiter ausbauen, allen voran die Nachbarn in unserer Hauptwindrichtung, wie Frankreich. Mit deren billiger Energie können unsere Unternehmen auf dem Weltmarkt nicht konkurrieren, und Klimaschutz und Naturschutz kosten Geld und sind nur mit einer starken Wirtschaft möglich. Dass wir unsere modernen Atomkraftwerke in die Luft sprengen, kann durchaus nach hinten losgehen. Wie das ausgeht, steht in den Sternen.
Das Mahnmal wurde als Projekt des Bund Naturschutz von dem koreanischen Künstler
Jin Mo Kang
gestaltet und von Auszubildenden der Berufsschule Marktredwitz - Wunsiedel,
Abteilung Steintechnik, aus dem dunklen Gestein
Diorit
hergestellt. Der Anlass, das Denkmal aufzustellen, war der fünfundzwanzigste
Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe.
Schildkröten-Gedanken
Nachdem ich die Tschernobyl-Schildkröte besucht hatte, ließ mich das Gefühl
nicht los, dass es neben dem Symbol der Hilflosigkeit gegenüber Dingen
wie der Atomenergie eine weitere Parallele zwischen der Radioaktivität und
einer Schildkröte gibt. Tagelang hatte ich keine Ahnung, warum mir der Gedanke
nicht aus dem Kopf ging.
Bis mir eines Tages, in einem Geistesblitz kurz nach dem Aufwachen, der
zugegebenermaßen etwas absurde Zusammenhang plötzlich klar wurde:
Die Aktivität von radioaktiven Stoffen lässt diese allmählich zerfallen,
und zwar immer auf die Hälfte der Aktivität innerhalb der sogenannten
Halbwertszeit. Das haben wir alle schon mal gehört.
Durch einen mathematischen Trugschluss führt das zu einer äußerst merkwürdigen
Parallele zu einem Wettrennen zwischen einer Schildkröte und Achilles, einem
Heros aus der griechischen Mythologie:
Beispiel Plutonium 239, Halbwertszeit 24 110 Jahre
Achilles und die Schildkröte
Nehmen wir an, wir haben 1000 solcher Plutonium-Atome.
Nach 24 110 Jahren sind es nur noch 500, usw.
Die anderen 500 zerfallen weiter in der sogenannten
Uran-Actinium-Zerfallsreihe
und werden irgendwann zu stabilem Blei.
Irgendwann, nach sehr langer Zeit ist nur noch ein Plutonium-Atom übrig.
Nun sollte man meinen, nach so langer Zeit ist es so alt, dieses Atom, dass es
im Laufe der nächsten Haltwertszeit schon zerfallen wird.
Aber so ist es nicht!!! Auch in den nächsten 24 110 Jahren beträgt
die Wahrscheinlichkeit auch wieder genau 50%. Wenn der Zufall es so will,
können wir warten bis wir schwarz werden.
Man kann also keinen Endpunkt berechnen, an dem alle Plutonium-Atome zerfallen
sind. Mathematisch-statistisch erreicht die Aktivität
niemals zwangsläufig Null (höchstens in der Unendlichkeit).
Praktisch ist das nicht von Bedeutung.
Ein einziges Atom schadet niemandem mehr.
An dem Punkt kommt die Schildkröte rechts ins Spiel.
Im 5. Jahrhundert vor Christus lebte der griechische Philosoph
Zenon von Elea.
In einem mathematischen Gedanken-Experiment stellte er sich vor, dass der
mythische Heros Achilles mit einer Schildkröte um die Wette rennt.
Da diese viel langsamer ist, gibt er ihr einen Vorsprung von sagen wir mal
100 m und wir wollen berechnen, wann und wo er sie überholt.
Um diesen Zeitpunkt und die Stelle zu berechnen, geben wir vor, dass
Achilles den Startpunkt der Schildkröte nach 10 Sekunden erreicht.
Die Schildkröte befindet sich allerdings nicht mehr dort, sondern ist in dieser
Zeit 1 m weitergekrabbelt. Er hat sie also noch nicht eingeholt.
Wir rechnen also weiter und stellen in einer einfachen Rechnung fest,
dass Achilles für den restlichen Meter eine Zehntel-Sekunde braucht.
Aber auch an diesem Platz befindet sich das Tier ja nicht mehr, da es in der
Zehntel Sekunde nach Adam Riese einen Zentimeter weitergekrabbelt ist.
Der Abstand wird also immer kleiner, aber wir erreichen rechnerisch nie den
Punkt, an dem Achilles die Schildkröte erreicht.
Wir errechnen den Überholpunkt:
100m + 1m + 0,01m + 0,0001m usw. ...
Einen Computer kann man mit so einer Rechenreihe an seine Grenzen treiben.
Die Rechnung geht nie auf, Achilles kann die Schildkröte also nicht überholen,
sie lacht ihn aus. Eine absurde Vorstellung.
Bei dem Beispiel rechts ist es so, dass der Überholvorgang mit Sicherheit
stattfindet, obwohl wir immer noch rechnen.
Auch wenn wir unendlich lange immer kleinere Zahlen addieren, kann das Ergebnis
einen bestimmten Wert nicht überschreiten. Dies ist dann der Grenzwert und
Überholpunkt. Wir nennen diese Rechnungen dann eine
konvergente Reihe,
im Gegensatz zu
divergenten Reihen,
die sich theoretisch unendlich fortsetzen lassen, ohne einen Höchstpunkt zu
erreichen. Mit der Frage, ob mathematische Reihen einen solchen Grenzwert
haben, haben sich berühmte Mathematiker befasst. So zum Beispiel aus der
Mathematiker-Familie Bernoulli vor allem Johann Bernoulli
Anfang des 18. Jahrhunderts und schließlich
Leonhard Euler einige Jahre später, um nur einige zu nennen, die sich
mit solchen Zahlenreihen beschäftigten.
Bei den Plutonium-Atomen links stellt sich diese Frage nicht, da bei einem
verbleibenden Atom die Rechnerei aufhören muss. Man kann die Reihe nicht mit
einem "halben Atom" oder ähnlichem fortsetzen, kann an diesem Punkt höchstens zu
Wahrscheinlichkeitsrechnung oder Chaos-Theorie abzweigen, was bei einem Atom
auch nicht weiterhilft. Beim Zerfall eines radioaktiven Atoms gibt es keine
Kausalität wie sonst in Physik und Mathematik. Er beruht wahrscheinlich auf
quantenmechanischen Effekten und ist anscheinend tatsächlich "Zufall" ohne
Ursache und Wirkung.
Es gibt natürlich schon Schildkröten, die schneller sind als ein Mensch.
Nur nicht beim Laufen. Meeresschildkröten, die ganze Ozeane durchschwimmen.
Da müsste Achilles bald aufgeben!
Ein weiteres Schildkröten-Paradoxon ist mir eingefallen:
Momo aus dem gleichnamigen Roman von Michael Ende,
im Film gespielt von Radost Bokel, muss mit der Schildkröte Kassiopeia
langsam gehen, um schneller zur Niemals-Gasse zu gelangen, wo sie rückwärts
gehen muss, um ins Nirgend-Haus zu Meister Secundus Minutius Hora zu gelangen.
Ich weiß, dass das keine sehr sinnvollen Gedanken sind, aber man kann das
Gehirn damit schon verwirren wie die Augen mit optischen Täuschungen.
Bitte verzeihen Sie mir die Verirrung in surreale Gedanken-Spielereien.